Category Archives: Therapeutische Maßnahme

Song of the Exile

Nicht nur die Herren des Neuen Kinos in Taiwan nutzten ihre Arbeit als Filmemacher, um sich mit ihren Autobiographien und Familiengeschichten auseinander zu setzen, auch die große Dame der Hong Kong New Wave verarbeitete ihre eigene, private Geschichte.

Aber auch wenn die Geburtstage von Ann Hui und Hou Hsiao-hsien zum Beispiel, nur wenige Wochen im Frühjahr 1947 auseinander lagen, und ihre Geburtsorte in China mit nur etwas über 2600 km gemessen an der Gesamtgröße der Volksrepublik geradezu nahe beieinander liegen, so schlugen ihre Familien während des Bürgerkrieges verschiedene Richtungen ein: während Hou Hsiao-hsien in Taiwan aufwuchs, gingen Ann Huis chinesischer Vater und ihre japanische Mutter zuerst nach Macao und dann nach Hong Kong.

Und auch, wenn Hou Hsiao-hsien das Drehbuch zu seinem autobiographischen Film gemeinsam mit der Schriftstellerin Chu Tien-wen verfasste, während Ann Hui sich für das Drehbuch ihres Films Wu Nien-jen auslieh, der sich ja schon im Rahmen des New Taiwanese Cinemas auf Autobiographisches spezialisiert hatte, und ihr Film überhaupt in Hong Konger und Taiwanesischer Zusammenarbeit entstand, so liegt es wohl nicht nur an ihrer Hauptdarstellerin Maggie Cheung, dass Ann Huis Song of the Exile so vollkommen anders aussieht, als Hou Hsiao-hsiens The Time To Live, The Time to Die.

Man sieht vielmehr deutlich, dass hier zwei sehr verschiedene Persönlichkeiten auf ihre Kindheit und Jugend zurückblicken: mit unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkten – vor allem ist es die Darstellungsweise, mit der sie Welten auseinander liegen – aber es sind ja auch ganz andere Geschichten, die hier erzählt werden, und die beide Filme sehenswert machen.

(Song of the Exile, Hong Kong und Taiwan 1990; Regie: Ann Hui.)

 

City of Sadness

Mit dem Neuen Taiwanesischen Kino Anfang der 1980er kamen auch neue Themen. Während in The Time to Live, The Time to Die noch die private Geschichte von Hou Hsiao-hsiens Familie im Vordergrund stand, und die Taiwans eher im Hintergrund ablief, so handelt es sich bei City of Sadness zwar ebenfalls hauptsächlich um die Geschichte einer Familie, aber hier gibt es keinen Rückzug ins Private mehr, jedes Familienmitglied wird auf seine Art und Weise in die politischen Ereignisse verwickelt.

Es beginnt mit der Kapitulationsrede des japanischen Kaisers Hirohito. Der Zweite Weltkrieg ist verloren und damit endet nach 51 Jahren auch die Besatzungszeit der Japaner in Taiwan. Nun soll der Inselstaat wieder zu China gehören, aber zu welchem, einem von der chinesischen Nationalpartei Kuomintang unter General Chian Kai-shek, oder einem kommunistischen unter Mao Zedong ist noch nicht entschieden, denn noch tobt der Bürgerkrieg und Taiwan wird von einem Krieg gleich in den nächsten mit hinein gezogen. Entsprechend ist es im Film, während die Ansprache Hirohitos im Radio läuft, und man hören kann, wie irgendwo eine Geburt stattfindet, ist es zunächst einmal: dunkel.

Ebenfalls Teil einer Trilogie, in deren zweiten Teil, The Puppetmaster, Li Tian-lu, der hier den alten Familienpatriarchen gibt, noch eine wesentliche Rolle spielen wird, und deren dritter Teil, Good Men, Good Women, das Thema des ersten aus einer anderen Perspektive zeigt, geht es hier aber nicht nur allgemein darum, wie schwierig es ist, durch solche Zeiten einigermaßen mit Anstand zukommen, sondern auch um den sogenannten Zwischenfall vom 28. Februar 1947, jenem Aufstand in Taiwan, der durch chinesisches Militär niedergeschlagen wurde, wobei zwischen 10 000 und 30 000 Zivilisten getötet wurden.

Ein Thema, das lange Zeit in Taiwan tabu war, weshalb das Drehbuch auch von den beiden Personen gemeinsam verfasst wurde, auf die – einzeln oder in Zusammenarbeit – der weitaus größte Teil der Drehbücher des Neuen Taiwanesischen Kinos zurückging: der Schriftstellerin Chu Tien-wen und dem Drehbuchautor und Schauspieler Wu Nien-jen. Dennoch, allem Fingerspitzengefühl zum Trotz, erhielt City of Sadness laut Regisseur Hou Hsiao-hsien zunächst keine Aufführungserlaubnis für Taiwan und wurde erst freigegeben, nachdem er auf internationalen Festivals gelaufen und ausgezeichnet worden war.

Auf diesen aber wurde er gefeiert, nicht nur in Asien, sondern auch in Europa, wo er als erster chinesisch-sprachiger Film den Goldenen Löwen von Venedig erhielt, was schon deshalb ganz passend ist, weil hier gleich mehrere chinesische Sprachen und Dialekte zu hören sind: neben Taiwanesisch auch Mandarin, Kantonesisch und das für Shanghai typische Chinesisch (plus das Japanisch der ehemaligen Besatzungsmacht).

Und auch auf der hier schon das eine oder andere Mal erwähnten Hong Kong Film Award Liste der Best 100 Chinese Motion Pictures brachte City of Sadness es auf Platz 5, was ihn zum höchstplatzierten taiwanesischen Film dieser Liste macht und wohl auch damit zu tun haben könnte, dass Tony Leung hier eine seiner frühen Hauptrollen hat, wenn auch eine stumme, da das für diese Rolle erforderliche Taiwanesisch aufgrund seiner Herkunft aus Hong Kong für Hou Hsiao-hsien einfach nicht überzeugend genug klang…

(City of Sadness, Taiwan 1989; Regie: Hou Hsiao-hsien.)

 

The Time to Live and the Time to Die

Einer der aktivsten und konsequentesten Mitbegründer des Taiwanesischen Neuen Kinos Anfang der 1980er war Hou Hsiao-hsien, der sich gleich in vielfacher Hinsicht als treibende Kraft betätigte: als Regisseur, Schauspieler und Produzent beispielsweise. Und anders als sein Kollege Edward Yang, wandte er sich dem Filmemachen auf direktem Wege zu, ohne Umwege über Computerdesign und die USA. Hou Hsiao-hsien war und blieb zunächst in Taiwan, wohin seine Familie, wie so viele andere, 1948, als er knapp ein Jahr alt war, aus der chinesischen Provinz Guangdong vor dem Bürgerkrieg in China geflohen war.

In Taiwan und seiner wechselhaften Geschichte fand Hou Hsiao-hsien auch die Themen seiner frühen Filme, die wiederum gerne auf Autobiographischem beruhten, so wie die Trilogie A Summer at Grandpa‘s (1984), The Time to Live and the Time to Die (1985) und Dust in the Wind (1986), von denen der erste Teil auf den Kindheitserinnerungen der Schriftstellerin und Drehbuchautorin Chu Tien-wen beruht, der dritte Teil auf denen von Wu Nien-jen, der hier das Drehbuch verfasste und der mittlere Teil von Hou Hsiao-hsiens Kindheit handelt, zu dem er das Drehbuch gemeinsam mit Chu Tien-wen schrieb.

Es ist ein bedächtiger Film, mit langen Einstellungen und ästhetisch schönen Bildern, ruhig und geradlinig erzählt, allenfalls vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung in Taiwan, die nur gelegentlich auf eine geradezu diskrete Weise in Geräuschen und Bildern erscheint, wie zum Beispiel jene von vorbeifahrenden Panzern, die in der Nacht nur zu hören sind und am nächsten Tag lediglich Spuren auf der Straße hinterlassen haben.

Vielmehr geht es um die sehr private Familiengeschichte der aus China in die Provinz Taiwans Eingewanderten, auch darum, wie es war in dieser Zeit erwachsen zu werden, aber anders, als der einige Jahre später zum gleichen Thema entstandene Film von Edward Yang, A Brighter Summerday (1991), bleibt hier die Zahl der Personen überschaubar, im Wesentlichen auf die Kernfamilie konzentriert, die wir über eine längere Zeitspanne hinweg begleiten und über die wir entsprechend mehr erfahren, unter anderem auch, wie extrem unterschiedlich das Leben für Männer und Frauen war.

(The Time to Live and the Time to Die, Taiwan 1985; Regie: Hou Hsiao-hsien.)

 

Yi Yi

Auch den 1947 in Shanghai geborenen, in Taipeh aufgewachsenen und 2007 verstorbenen Regisseur Edward Yang zog es früh in die USA. Allerdings zunächst einmal, um sein in Taiwan begonnenes Studium des Computerdesigns abzuschließen und diesen Beruf auch für einige Jahre in Seattle auszuüben. Aufgewachsen in einer Zeit, als es in Taipeh durchaus möglich war, Klassiker des Europäischen Kinos in Retrospektiven zu sehen, hatte er schon seit seiner Kindheit eine Leidenschaft für Filme entwickelt, die ihn nach Abschluss seines Studiums dazu brachte, anstatt eines PhDs lieber ein Filmstudium in Angriff zu nehmen.

Allerdings reagierte er auf die amerikanische Filmindustrie völlig anders als zum Beispiel der Regisseur dieses Films, denn seine nach einem Semester wieder beendete Studienzeit an der USC School of Cinematic Arts in Los Angeles überzeugte ihn zunächst davon, mit dem Filmgeschäft, das ihm dort viel zu kommerziell orientiert war, lieber nichts zu tun haben zu wollen.

Edward Yang selbst erzählte später, dass es Aguirre, der Zorn Gottes, von Werner Herzog war, dem man wohl tatsächlich nicht unterstellen kann, dass er rein kommerzielle Absichten verfolgt, der ihn dazu veranlasste, sich schließlich doch noch selbst auf diesem Gebiet zu betätigen.

Allerdings verließ er zu diesem Zweck die USA und kehrte zurück nach Taiwan, wo er nach einigen kleineren Arbeiten fürs Fernsehen bald eigene Filme schrieb und drehte, für die er sowohl in Taiwan, als auch auf internationalen Festivals viel Anerkennung erhielt.

Sein letzter Film, Yi Yi, wurde im Jahr 2000 in Cannes für die Goldene Palme nominiert und mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet. Einen Oscar hat Edward Yang für keinen seiner Filme erhalten, aber man darf wohl annehmen, dass dies auch nicht in seiner Absicht lag.

(Yi Yi, Taiwan und Japan 2000; Regie: Edward Yang.)

 

Eat Drink Man Woman

Neben dem Kino des sogenannten Mainland China und den Filmen aus Hong Kong gibt es noch einen weiteren Zweig Filmindustrie chinesischer Sprache mit langer Tradition: das Kino Taiwans.

Großen Zulauf erhielt dieses, ebenso wie Hong Kong, vor allem in der Frühphase der Volksrepublik China, als man im Zuge der angestrebten Volkserziehung auch beim Kino alles zu unterbinden suchte, das nicht ins offizielle Bild passte. In Hong Kong und Taiwan ließ es sich in solchen Zeiten einfach entspannter und unkontrollierter arbeiten und auch Geldgeber fanden sich dort leichter. Und so ist es kein Zufall, dass auch King Hu zum Beispiel, nachdem er diesen Film in Hong Kong gedreht hatte, weiter zog, um seine nachfolgenden, für das Wuxia-Genre stilbildenden Filme in Taiwan zu drehen.

In späteren Zeiten sollte sich dieser – für Taiwan ausgesprochen lukrative Trend für eine Weile umkehren, denn Schauspielerinnen wie zum Beispiel Brigitte Lin (hier und hier) und Joey Wong (hier und hier) oder der Schauspieler Takeshi Kaneshiro (ebenfalls hier zu sehen), stammen gebürtig aus Taiwan, wurden aber hauptsächlich durch Hong Kong Produktionen bekannt.

Auch den zur Zeit international wohl bekanntesten Filmschaffenden aus Taiwan zog es nach drei Filmen, die er in seinem Geburtsland drehte, in eine völlig andere Arbeitsumgebung, anders als die zuvor Genannten wechselte er aber auch gleich den Kontinent, indem er zunächst nach Großbritannien und dann nach Hollywood ging. Was wohl ebenfalls kein Zufall ist, denn wenn man sich die ambitionierte Liste der aus Taiwan als Anwärter für den Academy Award eingereichten Filme ansieht, dann fällt dort neben den vielen „Not Nominated“ nur zweimal „Nominee“ und nur ein einziges Mal „Won Academy Award“ auf, wobei in allen drei Fällen der Name des Regisseurs Ang Lee lautet.

Von eben diesen drei Filmen wurde Eat Drink Man Woman zwar ‚nur‘ nominiert und nicht mit dem Academy Award ausgezeichnet, war aber der letzte Film von Ang Lee, den er ausschließlich in Taiwan drehte und bevor er in den USA lernte, wie Filme aussehen müssen, um tatsächlich für Oscar würdig befunden zu werden.

(Eat Drink Man Woman, Taiwan 1994; Regie: Ang Lee.)

 

Platform

Auf die fünfte Generation folgt die sechste, so ist es auch bei den Absolventen der Beijing Filmakademie und mit dem Generationswechsel kommt meist auch eine neue Art die Welt zu sehen, respektive zu filmen.

Hatten Mitglieder der fünften Generation, wie Chen Kaige und Zhang Yimou, es mitunter, wenn auch mit wechselndem Erfolg, geschafft, sich mit den Zensurbehörden zu arrangieren und teilweise erhebliche Budgets für die Umsetzung ihrer bisweilen monumental geratenen Filme aufzutreiben, die gerne historisch-mythische Themen behandelten, so sieht dies nun mit der jüngeren Generation chinesischer Regisseure in Beijing zunächst einmal ganz anders aus: das meist geringe Budget kommt oft von japanischen oder europäischen Produzenten, gerne wird zur Handkamera gegriffen und statt großer Schauspieler-Stars besetzt man die Hauptrollen mit Kollegen und Freundinnen und arbeitet mit Laien, die ganz einfach das darstellen, was sie auch in ihrem sonstigen Leben sind. Und damit haben sich auch die Themen geändert: nun geht es um das zeitgenössische China, dessen ebenso zeitgenössischen Probleme meist gänzlich unpittoresk behandelt werden.

Ein in dieser Hinsicht typischer Vertreter seiner Generation ist Jia Zhang-Ke. Auch bei ihm ist Schluss mit Heldentum, Wuxia und Lustig, vielmehr schlägt hier die Realität mit all ihrer Härte zu, manchmal allerdings auch nur mit Perspektivlosigkeit und frustrierender Eintönigkeit und so ist es auch bei Platform (Zhantai), seinem zweiten langen, sehr langen Film nach drei Kurzfilmen, die er während seines Studiums drehte.

Eine Plattform kann bekanntermaßen einerseits eine Bühne sein, andererseits aber auch ein Ort, an dem Menschen darauf warten, dass der Zug endlich kommt, „Lonely we can only wait..“, wie es im namengebenden Popsong heißt und vielleicht muss man auch diesen Film in voller Länge gesehen haben, um Platform wirklich würdigen zu können, aber auf alle Fälle zementierte er den Ruf seines Regisseurs als experimenteller Underground-Filmemacher, was sich schon daran zeigte, dass er überwiegend mit Geld aus Hong Kong, Frankreich und vor allem vom japanischen Produktionsstudio Takeshi Kitanos finanziert wurde.

Und es war der Film, mit dem Jia Zhang-ke international bekannt wurde und der, ein Jahr, nachdem sein Generationsvorgänger Zhang Yimou ihn bereits zum zweiten Mal erhalten hatte, es immerhin auch schon zu einer Nominierung für den Goldenen Löwen von Venedig brachte.

(Platform, China 2000; Regie: Jia Zhang-ke.)

 

The Story of Qiu Ju

Mittlerweile hat sich Zhang Yimou, der bei den Olympischen Spielen im Sommer 2008 sowohl bei der aufwendig gestalteten Eröffnungs-, als auch bei der ebenfalls groß angelegten Abschlussfeier in Beijing die Regie führen durfte, ganz offensichtlich mit Zensur und Politik in seinem Heimatland China arrangiert.

Dies war zu Beginn seiner Karriere noch anders, gleich nach Abschluss seines Studiums an der Filmakademie von Beijing hatte er sich gemeinsam mit seinem Kommilitonen Chen Kaige in die Provinz abgesetzt, um dort diesen Film zu drehen, und bei vielen seiner späteren Arbeiten, bei denen er dann nicht mehr nur die Kamera, sondern auch die Regie führte, kam es immer wieder zu Differenzen mit den chinesischen Behörden, die wiederum regelmäßig Aufführungsverbote für seine Filme in China nach sich zogen. Was ihn aber andererseits auf internationalen Festivals vielleicht umso mehr zum gerne gesehenen und gefeierten Gast machte.

Jedenfalls hatte er, als er sich Anfang der 1990er daran machte, die Geschichte einer Frau zu verfilmen, die sich auf einen langen Weg durch die behördlichen Instanzen in China macht, im Hinblick auf dieses Thema, bereits reichlich eigene Erfahrung gesammelt. Dennoch geriet Qui Ju Da Guansi (Die Geschichte der Qiu Ju) keineswegs zu einer Abrechnung oder Anklage. – Traf aber dafür ziemlich genau den Geschmack und die Erwartungen der westlichen (Festival-) Zuschauer, oder doch zumindest der Kritiker und Jury-Mitglieder, die vor allem jene Teile des Films lobend hervorhoben, die den mit einer Handkamera aufgenommenen Alltag auf den Straßen von Chinas Städten zeigten, was vielleicht auch ein wenig damit zu tun hatte, dass sie ähnliche Bilder bereits von Michelangelo Antonioni kannten.

Zhang Yimou aber war es dieses Mal anscheinend endlich gelungen, es allen recht zu machen: auf den internationalen Festivals wurde er gefeiert und ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Löwen in Venedig, und auch im Heimatland wurde sein Film mit wohlwollender Billigung der Behörden aufgeführt. Ein Konzept, dass er einige Jahre später, in einer etwas anderen Variante, diesmal nicht ganz unumstritten, aber mit dem selben Ergebnis, wieder erfolgreich anwenden sollte.

(The Story of Qiu Ju, China 1992; Regie: Zhang Yimou.)

Yellow Earth

Als dieser Film 1964 in China seine Uraufführung hatte, war Chen Kaige 12 Jahre alt und nur wenige Jahre später sollte er im Rahmen der damals in China üblichen Erziehungsmaßnahmen, die ganz besonders die Kinder von ehemals Kulturschaffenden und Akademikern betrafen, seine Schulzeit beenden, um in einem von seinem Zuhause und der Familie weit entfernt gelegenen Teil des Landes zum Arbeitseinsatz geschickt zu werden.

Ebenfalls 12 Jahre alt war damals auch Zhang Yimou, dessen Kindheit in dieser Hinsicht ganz ähnlich verlief. Aber als die Zeit, die in China von offizieller Seite als Kulturrevolution bezeichnet wurde, vorbei war und 1978 in Beijing die Filmakademie wieder eröffnet wurde, gehörten beide zum ersten Jahrgang und erhielten vier Jahre später dort ihren Abschluss. Nur kurze Zeit danach war es dann wohl Zhang Yimou, der es Chen Kaige nahelegte, Beijing zu verlassen und es in einem kleineren Filmstudio, dem Guangxi, zu versuchen, wo sie gemeinsam den Film huáng tǔdì (Gelbe Erde) drehten, mit Chen Kaige als Drehbuchautor und Regisseur, während Zhang Yimou die Kameraarbeit übernahm.

Und die Idee, weit weg von der Hauptstadt und damit auch vom Fokus der Zensurbehörde, vielleicht etwas ungestörter arbeiten zu können, bewährte sich: denn auch wenn er sein Publikum in China teilweise erst mit etwas Verspätung fand, so war er doch der erste chinesische Film seit Beginn der Mao-Zeit, der auch in anderen Teilen der Welt aufgeführt wurde und dort viel Lob fand. Zudem zeigte er 20 Jahre nach eben diesem Film, dass man von nun an, auch international, mit einer neuen Art Filme aus der Volksrepublik China rechnen durfte. Was wiederum 21 Jahre später in Hong Kong dadurch honoriert wurde, dass Yellow Earth auf der bereits mehrfach erwähnten Liste der Best 100 Chinese Motion Pictures auf den vierten Platz gewählt wurde, hinter zwei Filmen aus Hong Kong und mit diesem Film auf Platz Eins.

(Yellow Earth, China 1984; Regie: Chen Kaige.)

 

Chungking Express

Irgendwann bin ich ein vorsichtiger Mensch geworden, wenn ich einen Regenmantel trage, trage ich auch eine Sonnenbrille – wer weiß schon, ob es regnet oder die Sonne scheinen wird?“

Die Dame, die dies sagt, trägt darüber hinaus auch eine etwas sperrige blonde Perücke, die sie gemeinsam mit Trenchcoat und Sonnenbrille bis zur Unkenntlichkeit verkleidet, was in diesem Falle aber nicht weiter schlimm ist, da von der Schauspielerin Brigitte Lin, die in eben dieser Aufmachung steckt, Mitte der 1990er zumindest in China ohnehin so ziemlich jeder Kinobesucher wusste, wie sie aussieht.

Nur wenige Tage vorher hatte sie noch, ebenfalls unter der Regie von Wong Kar-wei, in einer völlig anderen Art von Kostümierung gesteckt, da es aber mit diesem Film gerade absolut nicht voran gehen wollte, wurden zwei Monate Drehpause ausgerufen und irgendwie schaffte es Wong Kar-wei tatsächlich, einen großen Teil seiner Crew dazu zu überreden, mit ihm nach Hong Kong zu gehen und in dieser Zeit einen anderen Film zu drehen. An Hauptdarstellern war neben Brigitte Lin auch Tony Leung mit von der Partie, während Takeshi Kaneshiro und die Sängerin Faye Wong neu hinzu kamen.

Der Film wurde in 23 Tagen gedreht. Ein fertiges Drehbuch existierte nicht, vielmehr schrieb Wong Kar-wei die meisten Szenen jeweils in der Nacht oder am Morgen bevor sie gedreht wurden – immerhin war er darin so fleißig, dass aus dem Überhang, der eigentlich als dritte Episode vorgesehen war, ein eigener, weiterer Film wurde.

Das Ungeregelte und der Zeitdruck, der Wechsel von der Wüste nach Hong Kong und von Wuxia in die Gegenwart, wirkten sich offensichtlich inspirierend aus. Inhaltlich wie methodisch wurde fröhlich alles durcheinander gemischt: wackelige Handkamera, Zeitraffer und Zeitlupe, Krimi im Drogenmilieu, Polizisten mit Liebeskummer, zu laut aufgedrehte Musik und emotionale Handtücher, nicht zu vergessen die beiden realen, namengebenden Schauplätze, Chungking Mansions und der Fast Food Imbiss Midnight Express.

Aber während es bei Ashes of Time noch mehr als 15 Jahre dauern sollte, bis Wong Kar-wei ihn offiziell fertig stellte, feierte Chungking Express schon 1994 in Hong Kong Premiere, war der erste Wong Kar-wei Film, der auch in amerikanischen und europäischen Kinos gezeigt wurde und gehört bis heute zum festen Programm von Filmhochschulen in aller Welt: „Where do you want to go?“ – „Wherever you want to take me.“

(Chungking Express, Hong Kong 1994, Regie: Wong Kar-wei.)

 

Green Snake

Alle Dinge können wachsen und sich verändern: Ein Stein kann eine Pflanze werden, eine Pflanze kann ein Tier werden, ein Tier kann zum Menschen werden und Menschen können zu Göttern werden.“

Derlei gravierende Veränderungen finden allerdings auch in den buddhistisch geprägten Geschichten des alten China nicht einfach so über Nacht statt – es gehören vielmehr ausreichend Training, Selbstdisziplin und Fortbildung dazu, nicht zu vergessen Meditation und vor allem: viele gute Taten. Wechselt man die Richtung seines Tuns von gut nach böse, kann die eigene Entwicklung aber auch umgekehrt verlaufen und so kann es passieren, dass sich ein Mönch und erfolgreicher Dämonenjäger als Magen einer Krabbe wiederfindet und allein dessen orangene Farbe erinnert noch an seine vorherige Inkarnations-Stufe.

Hier allerdings geht es nicht um Krabben, sondern um Schlangen, eine weiße und eine grüne, denen es Jahrhunderte langes Training ermöglicht, die Gestalt von Frauen anzunehmen. Aber die Form zu erlangen, egal wie gut ihnen dies auch gelungen sein mag, war nicht das eigentliche Ziel, sondern der Inhalt, weshalb sich die Damen nun daran machen, die menschliche Gefühlswelt zu erkunden. Mönche, die ihnen das Leben schwer machen gibt es zwar auch hier in ausreichender Menge, aber anders, als in einer der älteren Versionen der Geschichte wird im Film keiner davon zu einem Magen, egal welchen Lebewesens.

Denn ebenso wie bei diesem und diesem Wuxia-Film gibt es auch hier eine literarische Vorlage, genau genommen sogar einige, die ihrerseits wiederum auf eine wesentlich ältere Legende zurückgehen, deren erste überlieferte schriftliche Version aus der Zeit der Ming Dynastie stammt. Im Verlaufe der Jahrhunderte entstanden viele Varianten des Themas, auch wurde aus der ursprünglichen Horrorgeschichte eine Romanze, die Version aber, die dem Film letztlich als Grundlage diente, wurde von der zeitgenössischen Schriftstellerin Lilian Lee verfasst, deren Bücher schon häufiger verfilmt wurden, unter anderem von Chen Kaige (Farewell my Concubine) und Fruit Chan (Dumplings).

Ähnlich vielfältig wie ihre schriftliche Niederlegung sind auch ihre diversen Umsetzungen: in der chinesischen Oper war die Geschichte schon lange beliebt, 1956 brachte das hier bereits mehrfach gewürdigte japanische Toho Studio den Stoff in Zusammenarbeit mit dem Hong Konger Studio der Shaw Brothers als seinen ersten Farbfilm in die Kinos und bis heute folgten zahlreiche weitere Verfilmungen, für Kino wie TV, ebenso wie weitere Aufführungen als Oper, Theaterstück oder Musical.

Was Tsui Hark aber daraus gemacht hat, der nach der für alle Beteiligten wenig erfreulichen Teamarbeit dieses Films, bei Green Snake lieber gleich als Produzent, Regisseur und Drehbuchautor fungierte, noch dazu unterstützt von Maggie Cheung und Joey Wang als Hauptdarstellerinnen, ist schon sehr eigen geraten: bunt, schräg und anarchisch, quer durch die Geschlechter-Klischees gepflügt und mit einigen durchaus überzeugenden, handfesten Argumenten gegen Selbstgerechtigkeit und Zölibat: „Du hast verloren!“

(Green Snake, Hong Kong 1993, Regie: Tsui Hark.)