Monthly Archives: June 2011

Mahanagar

Im Hinblick auf die schiere Menge an produzierten Filmen, ebenso wie auf die Anzahl der verkauften Tickets, hat Indien die größte Filmindustrie der Welt. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass Indien mit über 1,2 Milliarden Einwohnern nach der Volksrepublik China (mit über 1,3 Milliarden Einwohnern) das bevölkerungsreichste Land der Erde ist und aus 28 Bundesstaaten sowie sieben weiteren sogenannten bundesunmittelbaren Gebieten besteht, in denen über 100 verschiedene Sprachen gesprochen werden, mit Hindi und Englisch als überregionalen und 21 weiteren regionalen Amtssprachen.

Dementsprechend vielfältig ist das Kino Indiens: Während die als Bollywood bekannte Filmproduktion mit ihrem Hauptsitz in der Hauptstadt Mumbai ihre Filme meist in Hindi produziert und für ihre aufwendigen Unterhaltungsfilme mit Gesangs- und Tanzeinlagen bekannt ist, gelten die im Bundesstaat Westbengalen in der Landessprache Bengali produzierten Filme als eher intellektuell und anspruchsvoll. Einer der bekanntesten und international erfolgreichsten Vertreter des indischen bzw. bengalischen Autorenfilms war Satyajit Ray, der in Indien ungefähr zur gleichen Zeit begann Filme zu drehen, als dies in Europa Ingmar Bergman und Federico Fellini und in Japan Akira Kurosawa auch gerade taten. Und während Ingmar Bergman einmal einen seiner eigenen Filme als lausige Imitation eines Kuroswa-Films bezeichnete, und Fellini Kurosawa das größte lebende Beispiel all dessen, was ein Film-Autor sein solle, nannte, sagte Akira Kurosawa seinerseits über seinen Freund und Kollegen Satyajit Ray seine Filme nicht zu kennen, sei wie in der Welt zu existieren, ohne die Sonne und den Mond zu sehen.

Überdies war Ray ausgesprochen produktiv: zwischen 1955 und 1991 drehte er 29 Spielfilme plus sieben Dokumentationen, und schrieb nebenbei nicht nur Drehbücher, sondern auch in Indien sehr populäre Kurzgeschichten, vorzugsweise Science Fiction und Krimis.

Aber während ihm bereits sein Debüt-Film aus dem Jahr 1955, Pather Panchali, den er später zu einer Trilogie ausbaute, internationale Anerkennung und zahlreiche Auszeichnungen, unter anderen 1956 die Goldene Palme in Cannes einbrachte, wurde er in Deutschland erst viele Jahre später und auch dann zunächst nur einem sehr begrenzten Publikum zugänglich gemacht, nämlich als er 1964 mit seinem Film Mahanagar (zu deutsch: Die Großstadt) zur Berlinale eingeladen wurde, wo er dann auch den Silbernen Bären für die beste Regie erhielt. Drei Jahre später, am 11. 3. 1967, war Mahanagar einer der ersten indischen Filme überhaupt, die im deutschen Fernsehen, genauer gesagt dem WDR, gesendet wurden.

Als er 1982 in einem Interview gefragt wurde, ob es ihn denn überrascht habe, dass seine Filme auch außerhalb von Indien so gut aufgenommen wurden, antwortete Ray: „Ich hätte nie gedacht, dass irgendeiner meiner Filme, schon gar nicht Pather Panchali, in einem anderen Land gesehen würde. Die Tatsache, dass es so war, ist ein Hinweis darauf, dass, wenn es einem gelingt, allgemeingültige Empfindungen, Gefühle und Charaktere zu zeichnen, man gewisse Schranken überwinden und andere erreichen kann, auch Nicht-Bengalen.“

Und gerade Mahanagar ist ein schönes Beispiel dafür, wie recht er damit hatte, denn auch fast 50 Jahre nach seiner Entstehung wirkt dieser Film intensiv, seine Charaktere sind authentisch und aufrichtig, und selbst sein Thema ist noch immer aktuell, fast überall auf der Welt.

(Mahanagar, Indien 1963; Regie: Satyajit Ray.)

Wilde Erdbeeren

Es gibt zahlreiche internationale Filmfestivals, die meisten davon finden jährlich statt und fast alle vergeben Preise, wobei Kategorien wie „Bester Film“ und „Bester Regisseur“ selbstverständlich immer vertreten sind. Folglich ist im Laufe der Zeit so Einiges zusammengekommen, an ‚ausgezeichneten‘ Filmen, wie auch an ebensolchen Filmemachern. Wenn aber eine Jury aus ihrerseits preisgekrönten Filmregisseuren einen „Besten Filmregisseur aller Zeiten“ kürt, so wie 1997, anlässlich des 50. Jubiläums der Filmfestspiele von Cannes geschehen, dann liegt es wohl in der Natur der Sache, dass dieser Preis nicht gerade dazu geeignet ist, inflationär zu werden.

Selbst für Ingmar Bergman, der damals fast 80 Jahre alt war und in seinem Leben viele Auszeichnungen, nicht nur in Cannes, erhalten hatte, dürfte dies wohl eine besondere Art der Ehrung gewesen sein. Trotzdem machte er sich nicht die Mühe, selbst nach Cannes zu reisen, um sich dort feiern zu lassen, lieber schickte er einen Fernsehfilm als Beitrag („Lamar och gör sig till“/ „Dabei: ein Clown“) und seine Tochter Linn Ulmann um die „Palme der Palmen“ unter dem Applaus von 28 Filmregisseuren, jeder davon ebenfalls im Besitz mindestens einer Goldenen Palme, entgegen zu nehmen.

Er selbst hingegen zog es vor, daheim zu bleiben, in seinem Haus auf der Insel Farö, das nach seinen Vorstellungen gestaltet war und wo er, wie er ein paar Jahre später in einem Interview erzählte, zwar manchmal tagelang mit niemandem ein Wort wechselte, sich aber dennoch nicht als einsam empfand (Zitat ab 4:25 min).

Ein zurückgezogenes Leben in einem schönen Haus, Jemand, der sich um den Haushalt kümmert, ansonsten nicht allzu viel menschlicher Kontakt, so lernen wir auch Professor Isaak Borg kennen, den Protagonisten aus Wilde Erdbeeren – allerdings wurde dieser Film bereits 40 Jahre vor besagter Preisverleihung in Cannes gedreht und Bergman war damals erst Ende Dreißig. Sein Hauptdarsteller, Victor Sjöström, hingegen, ehemals selbst ein gefeierter Hollywood-Regisseur der Stummfilmzeit, brachte mit knapp 80 Jahren durchaus das erforderliche Alter und die nötige Reife für diese, seine letzte Rolle, mit. Was die Zusammenarbeit der beiden aber wohl auch nicht immer vereinfachte, zumindest erzählte Bergman später gerne, dass Sjöström während der Dreharbeiten hauptsächlich an seinem frühen Feierabend sowie dem dazugehörigen, pünktlich servierten Glas Whisky gelegen war.

Der schwedische Originaltitel des so im Jahre 1957 entstandenen Films lautet Smultronstället, was nicht nur, wie der deutsche Titel, Wilde Erdbeeren bedeutet, sondern auch einen vielleicht unscheinbaren, aber besonderen Ort meinen kann, an dem persönliche Erinnerungen hängen. Auch der Vorname des Helden, Isaak, hat seine spezielle Bedeutung, aus dem Hebräischen übersetzt heißt er „Gott möge lächeln“, was man bei Ingmar Bergman, Sohn eines lutherischen Pastors, der in vielen seiner Filme seine Bibelfestigkeit unter Beweis stellte, wohl als gewusst und beabsichtigt voraussetzen darf.

Und, ja, selbstverständlich wurde auch dieser Film mehrfach ausgezeichnet, wenn auch nicht in Cannes, aber 1958 mit dem Goldenen Bären in Berlin, 1959 mit dem Astor de Oro als „Bester Film“ und Victor Sjöström als „Bester Darsteller“ beim Mar del Plata in Argentinien und im Jahr 1960 in Los Angeles bei der Verleihung der Golden Globes mit dem Samuel Goldwyn International Award.

(Smultronstället, Schweden 1957; Regie: Ingmar Bergman.)

Arachnophobia

Die moderne Naturwissenschaft und ihre Wunder: Unerschrockene Menschen ziehen hinaus in entlegene Teile der Welt, um alles zu erforschen, das ihren Weg kreuzt. Verbreitungs-Karten werden angelegt, vertikale und räumliche Populationsdichten ermittelt, Statistiken erhoben, Proben entnommen – es wird seziert, gezeichnet und katalogisiert. Und an Bäumen geschüttelt… klik, klak, klik-klik-klik, klak, klak, KLONK.

Der Titel dieses Films umschreibt seinen Inhalt tatsächlich ganz zutreffend, falls man also selbst an einer ausgeprägten solchen leidet, ist es vielleicht ganz hilfreich, gelegentlich das Teppichmuster oder die Tapete zu studieren, obwohl es sich eigentlich um eine Art heiteren Familienfilm handelt.

Ob sich hier im günstigsten Falle vielleicht sogar eine heilende Wirkung infolge von Reizüberflutung erzielen lässt, ist zwar nicht mit Sicherheit zu sagen, möglicherweise aber betrachtet man die eigene, harmlos in der Zimmerecke sitzende Hausspinne anschließend mit anderen Augen, ja, man könnte sogar Freundschaft mit ihr schließen, denn es hätte entschieden schlimmer kommen können. Auf alle Fälle aber sollte man wohl jede Chance nutzen, zur… Therapie.

(Arachnophobia, USA 1990; Regie: Frank Marshall.)

Les Diaboliques

Nur um wenige Stunden war Georges-Henry Clouzot angeblich schneller als Alfred Hitchcock gewesen, aber diese reichten aus, um ihm die Filmrechte am Roman „Celle qui n’était plus“ (übersetzt: Sie, die nicht mehr war; deutscher Titel des Buches: Tote sollen schweigen, bzw. wie der deutsche Titel des Films: Die Teuflischen), zu sichern. Dass die Autoren Pierre Boileau und Thomas Narcejac hier die perfekte Vorlage für einen Thriller geschrieben hatten, war demnach nicht nur einem bedeutenden Regisseur aufgefallen und so wurde der Film, der 1955 in die Kinos kam, eben kein Hitchcock, sondern ein Clouzot, keine Hollywood-Produktion, sondern ein französischer Film (das us-amerikanische Remake mit dem Titel „Diabolique“ von 1996 können wir hier vernachlässigen) und die Hauptrollen gingen an Simone Signoret und Vera Clouzot, statt… wer auch immer es bei Alfred Hitchcock wohl gewesen wäre?

Hitchcock ging aber ebenfalls nicht leer aus, denn zum einen machten sich die Autoren des so begehrten Werkes gleich wieder an die Arbeit und schrieben eine neue Vorlage exklusiv für ihn, womit sie die Grundlage schufen, auf der Hitchcock 1957 einen seiner besten Filme, Vertigo, drehte. Zum anderen war das, was Georges-Henry Clouzot aus den von ihm gekauften Filmrechten machte, so überzeugend, dass Hitchcock das Ergebnis nicht nur für sehr gelungen hielt, sondern sich, wie man an seinen eigenen späteren Werken sehen kann, von ihm auch inspirieren ließ.

Mehr sollte man zu Les Diaboliques wohl auch nicht sagen. Am besten, man sieht ihn selbst.

(Les Diaboliques, Frankreich 1955; Regie: Henri-Georges Clouzot.)

Tonari no Totoro

Ein Katana ist ein japanisches Langschwert mit einer sehr scharfen, leicht gebogenen Klinge, eine gefährliche Waffe und fester Bestandteil der Ausrüstung der japanischen Samurai. Wenn man ein solches Schwert zugeschickt bekommt, ist dies nicht unbedingt als Freundschaftsgabe zu verstehen, auch dann nicht, wenn der Empfänger es Ende der 1990er in den USA erhält, sein Name Harvey Weinstein lautet und er einer der einflussreichsten amerikanischen Filmproduzenten ist. Aber dass der Absender zu derart eindringlichen Argumenten griff, hatte durchaus seinen Grund, denn Toshio Suzuki, der Chefproduzent des japanischen Studio Ghibli, ebenso wie die beiden Gründer Hayao Miyazaki und Isao Takahata waren es leid, mitansehen zu müssen, wie ihre Filme in kaum wieder erkennbaren Fassungen, gekürzt, umgeschnitten und mit völlig verfremdeter Handlung, in die Kinos der USA kamen, nur weil die dortigen Produzenten dies für publikumsverträglicher hielten.

Dabei wussten Hayao Miyazaki und Isao Takahata ganz genau, wie ihre Filme aussehen sollten und es konnte auch niemand besser wissen als sie, waren sie doch beide schon seit vielen Jahren als Autoren, Zeichner und Regisseure von japanischen Zeichentrickfilmen/Animes, sehr erfolgreich. Beide hatten Erfahrungen in verschiedenen japanischen Zeichentrickstudios gesammelt, schon bevor sie sich im Studio Toei Animation in Tokyo kennenlernten, welches seine Anime-Serien und Filme schon damals weltweit verkaufte, u.a. auch an das deutsche Fernsehen. Bei Toei Animation stießen sie auch auf Toshio Suzuki und gründeten 1985 gemeinsam eine eigene Produktionsfirma, das Studio Ghibli. Die finanzielle Grundlage hierfür hatte der Erfolg von Miyazakis Film Nausikaä aus dem Tal der Winde begründet, und eben dieser kam unter dem Titel Warriors of the Wind in den USA in einer derart verstümmelten Version in die Kinos, das Toshio Suzuki sich stellvertretend für das Studio Ghibli dazu veranlasst fühlte, sich öffentlich von ihr zu distanzieren.

Zunächst beschloss man bei Ghibli keine Verträge mehr mit westlichen Verleihfirmen abzuschließen und konzentrierte sich jahrelang hauptsächlich auf den japanischen Markt. Mit großem Erfolg, was selbstverständlich erneut das Interesse amerikanischer Film-Vermarkter weckte. 1996 gingen sowohl die Kino- als auch alle weiteren Vermarktungs- und Vertriebsrechte an die Walt Disney Company bzw. Miramax, aber nicht ohne eine spezielle Klausel, die jede Art von ungenehmigten Eingriffen in die Filme von vornherein ausschloss. Als aber dennoch Miramax in Person von Harvey Weinstein bei einem Treffen mit Hayao Miyazaki aggressiv auf Änderungen bei ihrem damals gerade fertiggestellten Film, Prinzessin Monoke, insistierte, da war es Zeit für das oben erwähnte Packet. Immerhin scheint die Botschaft angekommen zu sein, die da lautete: „No cuts!“ Keine Kürzungen!

Denn sowohl Prinzessin Mononoke als auch alle folgenden Produktionen des Studio Ghibli kamen in den USA und Europa in ungeschnittenen Fassungen auf den Markt, mehrheitlich hatte man auf den DVDs die Wahl zwischen dem Original mit Untertiteln oder aufwendig gemachten Synchronisationen mit bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern. Man darf wohl auch bezweifeln, dass andernfalls Prinzessin Monoke in seinem Erscheinungsjahr 1997 zum erfolgreichsten japanischen Film aller Zeiten geworden wäre, und das Gleiche gilt wohl auch für Chihiros Reise ins Zauberland von 2001, der Prinzession Monoke nicht nur als erfolgreichsten japanischen Film aller Zeiten weltweit ablöste, sondern 2002 auch mit dem Goldenen Bären in Berlin sowie 2003 in Los Angeles mit dem Oscar ausgezeichnet wurde.

Tonari no Totoro, zu deutsch: Mein Nachbar Totoro, ist einer der frühesten Filme des Studio Ghibli, Hayao Miyazaki und viele andere haben unter seiner Leitung zwei Jahre lang daran gearbeitet, ohne Computer-Einsatz, mit von Hand gezeichneten Folien und gemalten Hintergründen in Aquarell-Technik. Als er 1988 in die Kinos kam, befürchtete Hayao Miyazaki einen Flop und damit das Ende des Ghibli-Studios, aber hier irrte er sich, Totoro ist vielmehr bis heute das Markenzeichen von Studio Ghibli.

(Tonari no Totoro, Japan 1988; Regie: Hayao Miyazaki.)