Chung Kuo

„…und China ist Chung Kuo, das Reich der Mitte, eine der antiken Wiegen der Weltzivilisation. (…) und es sind sie, die Chinesen, die die Protagonisten unseres Filmes sind. Wir behaupten nicht, dass wir China verstehen. Alles was wir beabsichtigen ist, eine große Sammlung zu präsentieren, an Gesichtern, Gesten und Gewohnheiten. Als wir aus Europa ankamen, erwarteten wir, Berge und Wüsten zu erkunden, aber tatsächlich ist der größte Teil von China noch immer unerreichbar und der Zutritt verboten. Dennoch, in einer Art politischem Ping-Pong, haben die Chinesen einige Türen geöffnet, wenn auch stets begleitet von unseren Führern, die uns mit unnachgiebiger Beharrlichkeit davon abhielten, einen Schritt vom vorgeschriebenen Wege abzugehen.“

Im Jahr 1972, während in China die „Proletarische Kulturrevolution“ tobte, erhielt der italienische Filmemacher Michelangelo Antonioni, der sich selbst als marxistischen Intellektuellen bezeichnete, eine offizielle Einladung nach China, um dort eine Dokumentation über die Volksrepublik zu drehen. Die politischen Ereignisse in China waren in Europa – entsprechend der jeweils eigenen politischen Ausrichtung – mit Zustimmung oder Ablehnung aufgenommen worden, tatsächlich aber wusste man nicht viel darüber, da China selbst sich seit Jahren verschlossen gab und nur wenig nach außen dringen ließ.

Umso größer also das Interesse an authentischem Material, aber auch die Verantwortung, China im rechten Licht zu zeigen, nicht zu beschönigen, aber ebenso wenig zu verurteilen. Antonioni, der sich in seinen bisherigen Filmen meist zurückhaltend, aber durchaus kritisch mit dem ‚westlichen‘ Lebensstil auseinander gesetzt hatte und in Interviews von sich sagte, er sehe seine Stärke darin, ohne vorgefasste Erwartungen zunächst einmal aufzunehmen was vorhanden ist und erst bei der Sichtung des fertigen Materials einen Film daraus zu machen, schien für diese Aufgabe der Richtige zu sein.

Allerdings stellte sich bald heraus, dass er und sein Team nicht frei entscheiden konnten, worauf sie die Kamera überhaupt richten durften. Die Reiseroute, die sie mitbrachten, entsprach nicht der Vorstellung ihrer chinesischen Gastgeber, die ihrer Gastgeber nicht der eigenen, und so einigte man sich nach zähen Verhandlungen schließlich auf eine mehr-wöchige Reise mit den Stationen Beijing, Nanjing, Suzhou, Henan und Shanghai.

Da weder Antonioni noch ein anderes Mitglied seines Teams Chinesisch sprach und sie bei ihren Nachfragen auf ihre offiziellen Begleiter angewiesen waren, blieb ihnen nicht viel übrig, als die Kamera auf die Orte und vor allem Menschen zu richten und zu zeigen, was sie sahen. Was in manchen Situationen vollkommen ausreichend war, um beeindruckendes Material zu erhalten – so waren Antonioni und sein Team die ersten westlichen Filmemacher, die die Erlaubnis erhielten, in der „Verbotenen Stadt“ zu filmen, oder bei der vielleicht etwas drastischen Szene eines Kaiserschnitts mit Akupunktur-Anästhesie – aber an anderen Stellen eher hilflos wirkt.

Das Ergebnis waren viele Stunden Filmmaterial, die auf 220 Minuten zusammengeschnitten und unter dem Titel „Chung Kuo – Cina“ in drei Teilen im italienischen Fernsehen gezeigt wurden sowie eine zweistündige Fassung mit dem Titel „Antonionis China“, die 1973 in Frankreich in die Kinos kam und im europäischen und amerikanischen Fernsehen gezeigt wurde, unter anderem auch 1974 vom WDR.

In China allerdings wurde Antonionis Dokumentation zunächst nicht gut aufgenommen – Mao und seiner damals noch sehr einflussreichen letzten Ehefrau, Jiang Qing, hatte er dermaßen missfallen, dass sie nicht nur seine Ausstrahlung verboten, sondern Antonioni darüber hinaus eine anti-chinesische Haltung vorwarfen und ihn als Konterrevolutionär bezeichneten, zudem erschien 1974 in einer Beijinger Zeitung ein Artikel, der ausführlich gegen Antonionis Film Stellung bezog.

Erst 30 Jahre nach seiner Entstehung, im Jahr 2002 wurde er zum ersten Mal offiziell in China vor Publikum gezeigt: im Rahmen einer Veranstaltung, die in der Beijing Film Akademie stattfand, um Michelangelo Antonioni zu ehren.

(Chung Kuo, Italien 1972; Regie: Michelangelo Antonioni.)