Category Archives: Tatsächliche Ereignisse

City of Sadness

Mit dem Neuen Taiwanesischen Kino Anfang der 1980er kamen auch neue Themen. Während in The Time to Live, The Time to Die noch die private Geschichte von Hou Hsiao-hsiens Familie im Vordergrund stand, und die Taiwans eher im Hintergrund ablief, so handelt es sich bei City of Sadness zwar ebenfalls hauptsächlich um die Geschichte einer Familie, aber hier gibt es keinen Rückzug ins Private mehr, jedes Familienmitglied wird auf seine Art und Weise in die politischen Ereignisse verwickelt.

Es beginnt mit der Kapitulationsrede des japanischen Kaisers Hirohito. Der Zweite Weltkrieg ist verloren und damit endet nach 51 Jahren auch die Besatzungszeit der Japaner in Taiwan. Nun soll der Inselstaat wieder zu China gehören, aber zu welchem, einem von der chinesischen Nationalpartei Kuomintang unter General Chian Kai-shek, oder einem kommunistischen unter Mao Zedong ist noch nicht entschieden, denn noch tobt der Bürgerkrieg und Taiwan wird von einem Krieg gleich in den nächsten mit hinein gezogen. Entsprechend ist es im Film, während die Ansprache Hirohitos im Radio läuft, und man hören kann, wie irgendwo eine Geburt stattfindet, ist es zunächst einmal: dunkel.

Ebenfalls Teil einer Trilogie, in deren zweiten Teil, The Puppetmaster, Li Tian-lu, der hier den alten Familienpatriarchen gibt, noch eine wesentliche Rolle spielen wird, und deren dritter Teil, Good Men, Good Women, das Thema des ersten aus einer anderen Perspektive zeigt, geht es hier aber nicht nur allgemein darum, wie schwierig es ist, durch solche Zeiten einigermaßen mit Anstand zukommen, sondern auch um den sogenannten Zwischenfall vom 28. Februar 1947, jenem Aufstand in Taiwan, der durch chinesisches Militär niedergeschlagen wurde, wobei zwischen 10 000 und 30 000 Zivilisten getötet wurden.

Ein Thema, das lange Zeit in Taiwan tabu war, weshalb das Drehbuch auch von den beiden Personen gemeinsam verfasst wurde, auf die – einzeln oder in Zusammenarbeit – der weitaus größte Teil der Drehbücher des Neuen Taiwanesischen Kinos zurückging: der Schriftstellerin Chu Tien-wen und dem Drehbuchautor und Schauspieler Wu Nien-jen. Dennoch, allem Fingerspitzengefühl zum Trotz, erhielt City of Sadness laut Regisseur Hou Hsiao-hsien zunächst keine Aufführungserlaubnis für Taiwan und wurde erst freigegeben, nachdem er auf internationalen Festivals gelaufen und ausgezeichnet worden war.

Auf diesen aber wurde er gefeiert, nicht nur in Asien, sondern auch in Europa, wo er als erster chinesisch-sprachiger Film den Goldenen Löwen von Venedig erhielt, was schon deshalb ganz passend ist, weil hier gleich mehrere chinesische Sprachen und Dialekte zu hören sind: neben Taiwanesisch auch Mandarin, Kantonesisch und das für Shanghai typische Chinesisch (plus das Japanisch der ehemaligen Besatzungsmacht).

Und auch auf der hier schon das eine oder andere Mal erwähnten Hong Kong Film Award Liste der Best 100 Chinese Motion Pictures brachte City of Sadness es auf Platz 5, was ihn zum höchstplatzierten taiwanesischen Film dieser Liste macht und wohl auch damit zu tun haben könnte, dass Tony Leung hier eine seiner frühen Hauptrollen hat, wenn auch eine stumme, da das für diese Rolle erforderliche Taiwanesisch aufgrund seiner Herkunft aus Hong Kong für Hou Hsiao-hsien einfach nicht überzeugend genug klang…

(City of Sadness, Taiwan 1989; Regie: Hou Hsiao-hsien.)

 

The Time to Live and the Time to Die

Einer der aktivsten und konsequentesten Mitbegründer des Taiwanesischen Neuen Kinos Anfang der 1980er war Hou Hsiao-hsien, der sich gleich in vielfacher Hinsicht als treibende Kraft betätigte: als Regisseur, Schauspieler und Produzent beispielsweise. Und anders als sein Kollege Edward Yang, wandte er sich dem Filmemachen auf direktem Wege zu, ohne Umwege über Computerdesign und die USA. Hou Hsiao-hsien war und blieb zunächst in Taiwan, wohin seine Familie, wie so viele andere, 1948, als er knapp ein Jahr alt war, aus der chinesischen Provinz Guangdong vor dem Bürgerkrieg in China geflohen war.

In Taiwan und seiner wechselhaften Geschichte fand Hou Hsiao-hsien auch die Themen seiner frühen Filme, die wiederum gerne auf Autobiographischem beruhten, so wie die Trilogie A Summer at Grandpa‘s (1984), The Time to Live and the Time to Die (1985) und Dust in the Wind (1986), von denen der erste Teil auf den Kindheitserinnerungen der Schriftstellerin und Drehbuchautorin Chu Tien-wen beruht, der dritte Teil auf denen von Wu Nien-jen, der hier das Drehbuch verfasste und der mittlere Teil von Hou Hsiao-hsiens Kindheit handelt, zu dem er das Drehbuch gemeinsam mit Chu Tien-wen schrieb.

Es ist ein bedächtiger Film, mit langen Einstellungen und ästhetisch schönen Bildern, ruhig und geradlinig erzählt, allenfalls vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung in Taiwan, die nur gelegentlich auf eine geradezu diskrete Weise in Geräuschen und Bildern erscheint, wie zum Beispiel jene von vorbeifahrenden Panzern, die in der Nacht nur zu hören sind und am nächsten Tag lediglich Spuren auf der Straße hinterlassen haben.

Vielmehr geht es um die sehr private Familiengeschichte der aus China in die Provinz Taiwans Eingewanderten, auch darum, wie es war in dieser Zeit erwachsen zu werden, aber anders, als der einige Jahre später zum gleichen Thema entstandene Film von Edward Yang, A Brighter Summerday (1991), bleibt hier die Zahl der Personen überschaubar, im Wesentlichen auf die Kernfamilie konzentriert, die wir über eine längere Zeitspanne hinweg begleiten und über die wir entsprechend mehr erfahren, unter anderem auch, wie extrem unterschiedlich das Leben für Männer und Frauen war.

(The Time to Live and the Time to Die, Taiwan 1985; Regie: Hou Hsiao-hsien.)

 

The World

„See the world in one day without ever leaving Beijing!“

Manchmal ist Die Welt ein Themenpark. In diesem Falle kann man ihn per Bahn umrunden („Good day dear visitors, welcome onboard the monorail. It circles the park completely. The ride takes 15 minutes.“) oder auch zu Fuß besichtigen: ein japanisches Teehaus mit Garten zum Beispiel, den Eiffel-Turm, das Taj Mahal, den schiefen Turm von Pisa, den Petersplatz und die Pyramiden, die Tower Bridge, Big Ben und einige mehr, alles in miniatur nachgebaut versteht sich, aber dafür stehen hier auch solche Sehenswürdigkeiten, die es an ihrem eigentlichen Standort nicht mehr zu besichtigen gibt („These are the Twin Towers, they were bombed on 11th September, we still have them.“ – „Great!“).

Vorbild und Drehort waren der reale Beijing World Park und ein etwas älterer, aber ähnlicher Themenpark in Shenzhen, vor allem aber geht es hier um die Menschen, die dort arbeiten, bescheiden entlohnt und noch bescheidener untergebracht, als Wachpersonal, in der Gastronomie oder mit wechselnden Kostümen als Darsteller/innen an den Attraktionen des Parks oder in den dazugehörigen Shows.

Und angefangen hatte es ja schon mit diesem Film, aber irgendwann muss es zwischen den Kritikern und Jia Zhang-ke so richtig gefunkt haben, denn ab dann begannen ihn fast alle zu lieben, wobei ihm sein Ruf als chinesischer Underground- oder Independent-Filmemacher wohl ganz hilfreich gewesen sein dürfte.

Obwohl er dies genau genommen mit The World schon nicht mehr war. Denn zwar hatte Jia Zhang-ke mittlerweile eine eigene Produktionsfirma gegründet, und wurde weiterhin hauptsächlich von japanischen Filmstudios, allen voran Office Kitano, und mit Geld aus Frankreich finanziert, aber diesmal erhielt er auch Unterstützung aus Shanghai und vor allem: die offizielle Erlaubnis der chinesischen Filmaufsichtsbehörde in Beijing, diesen und bislang auch alle seine folgenden Filme ohne Änderungen im In- und Ausland zu zeigen und bei internationalen Wettbewerben einzureichen.

Letzteres mit Erfolg, denn auch wenn seine Filme weder in China noch im Rest der Welt das Publikum in Scharen in die Kinos zogen, Kritiker und Jurys internationaler Filmfestivals waren offensichtlich beeindruckt: auch für The World, der bei den Filmfestspielen in Venedig seine Premiere feierte, gab es neben einigen anderen Auszeichnungen wieder eine Nominierung und zwei Jahre später, mit seinem nächsten Film, erhielt er dann schließlich auch seinen ersten Goldenen Löwen, ganz zu schweigen von all dem Kritiker-Lob, das er seitdem ebenfalls erhält

(The World, China 2004; Regie: Jia Zhang-ke.)

 

Yellow Earth

Als dieser Film 1964 in China seine Uraufführung hatte, war Chen Kaige 12 Jahre alt und nur wenige Jahre später sollte er im Rahmen der damals in China üblichen Erziehungsmaßnahmen, die ganz besonders die Kinder von ehemals Kulturschaffenden und Akademikern betrafen, seine Schulzeit beenden, um in einem von seinem Zuhause und der Familie weit entfernt gelegenen Teil des Landes zum Arbeitseinsatz geschickt zu werden.

Ebenfalls 12 Jahre alt war damals auch Zhang Yimou, dessen Kindheit in dieser Hinsicht ganz ähnlich verlief. Aber als die Zeit, die in China von offizieller Seite als Kulturrevolution bezeichnet wurde, vorbei war und 1978 in Beijing die Filmakademie wieder eröffnet wurde, gehörten beide zum ersten Jahrgang und erhielten vier Jahre später dort ihren Abschluss. Nur kurze Zeit danach war es dann wohl Zhang Yimou, der es Chen Kaige nahelegte, Beijing zu verlassen und es in einem kleineren Filmstudio, dem Guangxi, zu versuchen, wo sie gemeinsam den Film huáng tǔdì (Gelbe Erde) drehten, mit Chen Kaige als Drehbuchautor und Regisseur, während Zhang Yimou die Kameraarbeit übernahm.

Und die Idee, weit weg von der Hauptstadt und damit auch vom Fokus der Zensurbehörde, vielleicht etwas ungestörter arbeiten zu können, bewährte sich: denn auch wenn er sein Publikum in China teilweise erst mit etwas Verspätung fand, so war er doch der erste chinesische Film seit Beginn der Mao-Zeit, der auch in anderen Teilen der Welt aufgeführt wurde und dort viel Lob fand. Zudem zeigte er 20 Jahre nach eben diesem Film, dass man von nun an, auch international, mit einer neuen Art Filme aus der Volksrepublik China rechnen durfte. Was wiederum 21 Jahre später in Hong Kong dadurch honoriert wurde, dass Yellow Earth auf der bereits mehrfach erwähnten Liste der Best 100 Chinese Motion Pictures auf den vierten Platz gewählt wurde, hinter zwei Filmen aus Hong Kong und mit diesem Film auf Platz Eins.

(Yellow Earth, China 1984; Regie: Chen Kaige.)

 

Dōngfāng hóng

Der erste Farbfilm in chinesischer Sprache erschien im Jahr 1965 in Beijing, nur ein Jahr bevor in Hong Kong dieser Film, ebenfalls in Farbe, anlief. Seine Uraufführung hatte er bereits im Jahr zuvor, am 2. Oktober 1964, zur Feier des 15. Jahrestages der Gründung der Volksrepublik China in der Großen Halle des Volkes am historisch bedeutsamen Tian’anmen-Platz und beides, Entstehungszeit wie Anlass, sind dem Film auch unschwer anzusehen.

Wie sehr sich die Zeiten und damit, ganz unabhängig von Farbe oder Schwarz/Weiß, auch die Filme geändert hatten, wird ganz besonders deutlich, wenn man ihn zum Beispiel mit einem Film vergleicht, der in Shanghai mehr als 15 Jahre früher, also kurz vor der Gründung der Volksrepublik China gedreht und dann für lange Zeit nicht mehr aufgeführt wurde.

Aber da sich seither die Zeiten weiter geändert haben, stehen heute beide Filme, sowohl Spring in a Small Town, als auch Dōngfāng hóng, bzw. The East is Red bei Archive.org zur Ansicht und zum Download zur Verfügung.

(Dōngfāng hóng, China 1965; Regie: Ping Wang.)

 

Hollywood Chinese

… wie gut Bernardo Bertolucci mit seinem Film den Geschmack Hollywoods getroffen hatte, zeigte sich bei der Verleihung der Academy Awards im Jahr 1988, wo er mit neun Oscars ausgezeichnet wurde – inklusive als „Best Picture“ und „Best Director“.

Wobei Hollywood zu diesem Zeitpunkt bereits eine recht klar definierte Vorstellung von China und seinen Einwohnern hatte, waren diese doch schon seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der dortigen Produktionen, sei es als Erzbösewicht, als Detektiv, als devote Ehefrau oder als Prostituierte, die allerdings anfangs eher selten von Schauspielern chinesischer Herkunft dargestellt wurden, und falls doch, so sah man es ihnen bisweilen nicht allzu sehr an. Stattdessen wurden fröhlich die Klischees verbreitet: Hollywoods Chinesinnen waren von exotischer Schönheit und unterwürfig den weißen Männern ergeben, ihre männlichen Pendants hingegen sprachen gerne eine alberne Sprache, mit der sie pseudo-asiatische Weisheiten verbreiteten.

Diese Stereotypen waren derart hartnäckig, dass auch später, als man in Hollywood immerhin schon soweit war, Rollen, die für Asiaten vorgesehen waren, auch mit Asiaten zu besetzen, diese wiederum vor dem Problem standen, möglichst exakt den Erwartungen der Produzenten entsprechen zu müssen, was in den meisten Fällen bedeutete, das Klischee wieder zu kopieren. Dies ging schließlich so weit, dass Schauspielerinnen wie Joan Chen für ihre Rollen mit Sprechtrainern das spezielle Pidgin einüben mussten, das zwar außerhalb von Hollywood-Filmen niemand sprach, hier aber Pflicht war.

Diese und andere Geschichten erzählen Schauspielerinnen und Schauspieler, Drehbuchautoren, Schriftstellerinnen und viele andere, in der Dokumentation von Arthur Dong Hollywood Chinese – The Chinese in American Feature Film von 2007. Zu Wort kommt hier zum Beispiel auch Lisa Liu, die immerhin den Mut besaß, gelegentlich ihre Regisseure darauf hinzuweisen, wenn sie sich ihrer Ansicht nach allzu weit von den China üblichen Gepflogenheiten entfernten, worüber die jeweiligen Regisseure stets höflich aber konsequent hinweg sahen. Und auch, wenn Bernardo Bertolucci sich die Mühe gemacht hatte, Drehgenehmigungen für Originalschauplätze zu erhalten, so bildete er in dieser Hinsicht keine Ausnahme, denn über ihre Rolle als Kaiserinwitwe Cixi erzählt sie: „Just like when I was working with Mr. Bertolucci. He wanted the Eunuchen to move the bed and I said ‚you know, the empress dowagers bed should be very stable‘. That the Stability is a symbol for her health and if you move the bed, it‘s an hurt of – in China you cannot do that. So he said: ‚Oh I understand what you are saying, but you know I‘m making an artistic film.“ Oder, wie Joan Chen es zusammenfasst: „Bernardo Bertolucci is just a fantastic filmmaker and he is so in love with this China, that‘s in his fantasy.“

Aber dass Filme bisweilen mehr über die Menschen aussagen, die sie gemacht haben, als über die Themen, die sie behandeln, ist ja nichts Neues und darum, wie sehr oder wenig sich einzelne Regisseure um realistische Darstellung bemühten, geht es in dieser Dokumentation eigentlich auch gar nicht, sondern darum, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen: sowohl jene, die die Klischees verkörperten, als auch die, die damit aufwuchsen und zurechtkommen mussten, denn, so sagt es Regisseur Arthur Dong: „Through their stories, we learn about history, and through what they went through, what happened in Hollywood.” Und Hollywood war weit verbreitet.

(Hollywood Chinese, USA 2007; Regie: Arthur Dong.)

Chung Kuo

„…und China ist Chung Kuo, das Reich der Mitte, eine der antiken Wiegen der Weltzivilisation. (…) und es sind sie, die Chinesen, die die Protagonisten unseres Filmes sind. Wir behaupten nicht, dass wir China verstehen. Alles was wir beabsichtigen ist, eine große Sammlung zu präsentieren, an Gesichtern, Gesten und Gewohnheiten. Als wir aus Europa ankamen, erwarteten wir, Berge und Wüsten zu erkunden, aber tatsächlich ist der größte Teil von China noch immer unerreichbar und der Zutritt verboten. Dennoch, in einer Art politischem Ping-Pong, haben die Chinesen einige Türen geöffnet, wenn auch stets begleitet von unseren Führern, die uns mit unnachgiebiger Beharrlichkeit davon abhielten, einen Schritt vom vorgeschriebenen Wege abzugehen.“

Im Jahr 1972, während in China die „Proletarische Kulturrevolution“ tobte, erhielt der italienische Filmemacher Michelangelo Antonioni, der sich selbst als marxistischen Intellektuellen bezeichnete, eine offizielle Einladung nach China, um dort eine Dokumentation über die Volksrepublik zu drehen. Die politischen Ereignisse in China waren in Europa – entsprechend der jeweils eigenen politischen Ausrichtung – mit Zustimmung oder Ablehnung aufgenommen worden, tatsächlich aber wusste man nicht viel darüber, da China selbst sich seit Jahren verschlossen gab und nur wenig nach außen dringen ließ.

Umso größer also das Interesse an authentischem Material, aber auch die Verantwortung, China im rechten Licht zu zeigen, nicht zu beschönigen, aber ebenso wenig zu verurteilen. Antonioni, der sich in seinen bisherigen Filmen meist zurückhaltend, aber durchaus kritisch mit dem ‚westlichen‘ Lebensstil auseinander gesetzt hatte und in Interviews von sich sagte, er sehe seine Stärke darin, ohne vorgefasste Erwartungen zunächst einmal aufzunehmen was vorhanden ist und erst bei der Sichtung des fertigen Materials einen Film daraus zu machen, schien für diese Aufgabe der Richtige zu sein.

Allerdings stellte sich bald heraus, dass er und sein Team nicht frei entscheiden konnten, worauf sie die Kamera überhaupt richten durften. Die Reiseroute, die sie mitbrachten, entsprach nicht der Vorstellung ihrer chinesischen Gastgeber, die ihrer Gastgeber nicht der eigenen, und so einigte man sich nach zähen Verhandlungen schließlich auf eine mehr-wöchige Reise mit den Stationen Beijing, Nanjing, Suzhou, Henan und Shanghai.

Da weder Antonioni noch ein anderes Mitglied seines Teams Chinesisch sprach und sie bei ihren Nachfragen auf ihre offiziellen Begleiter angewiesen waren, blieb ihnen nicht viel übrig, als die Kamera auf die Orte und vor allem Menschen zu richten und zu zeigen, was sie sahen. Was in manchen Situationen vollkommen ausreichend war, um beeindruckendes Material zu erhalten – so waren Antonioni und sein Team die ersten westlichen Filmemacher, die die Erlaubnis erhielten, in der „Verbotenen Stadt“ zu filmen, oder bei der vielleicht etwas drastischen Szene eines Kaiserschnitts mit Akupunktur-Anästhesie – aber an anderen Stellen eher hilflos wirkt.

Das Ergebnis waren viele Stunden Filmmaterial, die auf 220 Minuten zusammengeschnitten und unter dem Titel „Chung Kuo – Cina“ in drei Teilen im italienischen Fernsehen gezeigt wurden sowie eine zweistündige Fassung mit dem Titel „Antonionis China“, die 1973 in Frankreich in die Kinos kam und im europäischen und amerikanischen Fernsehen gezeigt wurde, unter anderem auch 1974 vom WDR.

In China allerdings wurde Antonionis Dokumentation zunächst nicht gut aufgenommen – Mao und seiner damals noch sehr einflussreichen letzten Ehefrau, Jiang Qing, hatte er dermaßen missfallen, dass sie nicht nur seine Ausstrahlung verboten, sondern Antonioni darüber hinaus eine anti-chinesische Haltung vorwarfen und ihn als Konterrevolutionär bezeichneten, zudem erschien 1974 in einer Beijinger Zeitung ein Artikel, der ausführlich gegen Antonionis Film Stellung bezog.

Erst 30 Jahre nach seiner Entstehung, im Jahr 2002 wurde er zum ersten Mal offiziell in China vor Publikum gezeigt: im Rahmen einer Veranstaltung, die in der Beijing Film Akademie stattfand, um Michelangelo Antonioni zu ehren.

(Chung Kuo, Italien 1972; Regie: Michelangelo Antonioni.)

All the Presidents Men

„Forget the myths the media’s created about the White House. The truth is, these are not very bright guys, and things got out of hand.“ Mit anderen Worten: Sie denken, die Leute im Weißen Haus wüssten, was sie tun – aber das ist nicht der Fall.

Von all den vielen anderen großen und wichtigen Institutionen weltweit, bei denen der Verdacht ebenfalls angebracht ist, die dortigen Verantwortlichen seien weder die Klügsten, noch hätten sie Ahnung von dem, was sie tun, fangen wir hier gar nicht erst an. Allerdings war es zum Zeitpunkt, als dieser Film gedreht wurde, eher umgekehrt: die ganze Watergate-Affäre war von den Medien Jahre lang wieder und wieder durchgekaut worden, allseits bekannt und eigentlich wollte niemand mehr etwas davon hören.

Wenn man aber den Mythen glauben darf, die Medien und Beteiligte in Form von Interviews, Promotionmaterial, Making ofs, etc. um den Film kreiert haben, dann war es der Produzent Robert Redford, der die beiden Hauptakteure, Carl Bernstein und Bob Woodward, erst auf die Idee brachte, in dem Buch, an dem sie gerade schrieben, nicht erneut die Fakten des politischen Skandals, sondern viel mehr ihre eigene Rolle und ihr Vorgehen zu behandeln, was dann gleichzeitig auch die Grundidee des Drehbuchs wurde. Denn die Zuschauer wissen ja vorher bereits, wie die Geschichte ausgeht, kennen sogar die meisten Details, wie also Spannung erzeugen? Ein Problem, das alle Beiträge der hiermit vorerst abgeschlossenen Reihe von ‚Movie of the week‘-Filmen, die auf wahren Begebenheiten beruhen, zu lösen hatten. Vielleicht mit einer Ausnahme, da die Geschichte dieses Mannes zur Entstehungszeit des Films schon weitgehend in Vergessenheit geraten war. Anders als bei diesen Personen, die, zumindest in dem Land, in dem gedreht wurde, zur Entstehungszeit des Films ziemlich bekannt waren, was man von dem Mann, um den es hier geht, wohl bis heute sagen kann. Und während diese Filmemacher ihre eigene Interpretation historisch bekannter Gründungsmythen umsetzten: entweder mit erkennbarer politischer Absicht oder völlig abstrakt, ist es bei diesem Film gerade der hohe Bekanntheitsgrad der Geschichte, der die Leute immer wieder ins Kino zieht.

Bei All the Presidents Men entschied man sich hingegen für einen anderen Ansatz: die gesamte Watergate-Affäre wurde einfach vorausgesetzt, um eine ganz andere Geschichte zu erzählen, nämlich die, von zwei sehr unterschiedlichen Männern, die es von der untersten Hierarchiestufe ihres eigenen Berufes aus schafften, den höchsten Mann im Staate zu stürzen, und das nicht, weil sie so herausragend, clever und abgebrüht waren, sondern eher durch Eigenschaften, die grundsätzlich den meisten Menschen zur Verfügung stehen: Hartnäckigkeit, Naivität und die völlige Unfähigkeit, die möglichen Konsequenzen des eigenen Handelns richtig einzuschätzen.

Und so kreierte dieser Film seinen eigenen Mythos, nämlich den vom ‚Investigativen Journalismus‘, der davon handelt, dass aufrechte Journalisten in aller Welt Verschwörungen aufdecken und all dem Bösen, das in Politik und Wirtschaft so vor sich geht, damit ein Ende setzen ( …und davon, dass dies manchmal auch ganz anders sein kann, handelt dieser Film).

(All the Presidents Men, USA 1976; Regie: Alan J. Pakula.)

Dersu Uzala

„Verehrter Wladimir Klawdijewitsch, Ihr Buch las ich mit großem Genuss. Abgesehen von seinem wissenschaftlichen Wert, der, selbstverständlich, ohne Zweifel auch wichtig ist, war ich begeistert und hingerissen von seiner Darstellungskraft. Ihnen ist es gelungen, Brehm mit Fenimore Cooper zu vereinen – das ist, glauben Sie mir, kein geringes Lob. Der Golde wurde von Ihnen ausgezeichnet geschildert, für mich ist er eine lebendigere ‚künstlerisch vollendetere‘ Gestalt als der ‚Pfadfinder‘. Ich gratuliere Ihnen aufrichtig.“

So schrieb es Maxim Gorki in einem Brief am 24.1.1928 an Wladimir Arsenjew, Geograph und Offizier der zaristischen Armee Russlands. Arsenjew (1872–1930) hatte zwischen 1902 und 1930 zwölf Expeditionen in das damals noch unerforschte Gebiet des Ussuri geleitet und mehr als sechzig Publikationen über seine Forschungen und Vermessungsarbeit verfasst, aber das Buch, das ihn bekannt machte und von dem Maxim Gorki in seinem Brief schrieb, waren Arsenjews autobiographische Erinnerungen an seine gemeinsamen Expeditionen und seine Freundschaft mit dem Taigajäger Dersu Uzala.

Ebenfalls beeindruckt von Arsenjews Schilderungen war wohl auch Akira Kurosawa, der seinerseits zwar bereits 1957 ein Theaterstück von Maxim Gorki verfilmt hatte, aber in Europa und den USA lange Zeit in erster Linie für seine Samurai-Filme bekannt war. Filme wie zum Beispiel Rashomon, für den er 1950 den Goldenen Löwen von Venedig erhielt, und die unter Einsatz von zahlreichen Statisten oft zu Monumentalfilmen gerieten, oder Yojimbo, der, ebenso wie einige andere seiner Filme dem westlichen Publikum zunächst dadurch bekannt wurde, dass er europäischen oder amerikanischen Filmemachern als Vorbild diente, bzw. detailgenau kopiert wurde.

Ende der 1960er Jahre machte Kurosawa aber trotz aller bisherigen Erfolge eine schlimme Phase durch. Mit seinem letzten Film, Dodesukaden, der sein erster Farbfilm war, hatte er eine ganz neue Richtung eingeschlagen, was aber in Japan nicht gut ankam und zu einem finanziellen Misserfolg führte. Kurosawa fühlte sich wohl nicht nur missverstanden, sondern sah auch wenig Chancen, ausreichend Geld für einen neuen Film zusammenzubringen, was besonders bitter sein musste für einen Menschen, der von sich sagte: „I believe that what pertains only to myself is not interesting enough to record and leave behind me. More important is my conviction that if I were to write anything at all, it would turn out to be nothing but talk about movies. In other words, take ‘myself’, subtract ‘movies’, and the result is zero.“

Seine Krise erreichte ihren Tiefpunkt mit einem Selbstmordversuch im Dezember 1971. Kurosawa überlebte und erholte sich, schien aber lange Zeit keine Filme mehr drehen zu wollen oder zu können, auch nicht, als Dodesukaden 1972 in den USA bei den Academy Awards für den besten fremdsprachigen Film nominiert wurde. Selbst, als ihm Anfang 1973 das Studio Mosfilm ein Angebot zur Zusammenarbeit machte, eben jenes Moskauer Filmstudio, das nicht nur schon 1925 Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin, sondern auch Andrej Tarkovskys Filme produzierte, die beide von Kurosawa hoch geschätzt wurden, dauerte es noch viele Monate, bis Kurosawa im Dezember desselben Jahres mit seinen vier engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in die Sowjetunion ging, um dort Arsenjews Buch zu verfilmen.

Die Dreharbeiten waren lang und anstrengend, nicht zuletzt wegen der monatelangen Außenaufnahmen in der sibirischen Taiga und als Kurosawa nach anderthalb Jahren im Juni 1975 nach Hause zurückkehrte, soll er einigermaßen erschöpft gewesen sein. Aber die Strapazen war es wohl wert: Als japanisch-russische Koproduktion feierte Dersu Uzala am 2. August 1975 seine offizielle Weltpremiere in Japan, nachdem er bereits im July 1975 auf dem Moskauer Internationalen Filmfestival mit dem Goldenen Preis ausgezeichnet worden war. Die Kritiken in Japan waren zwar erneut verhalten, aber finanziell wurde der Film ein Erfolg und während es bei Dodesukaden im Jahr 1970 noch bei der Nominierung geblieben war, wurde Dersu Uzala 1976 in den USA mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Wobei es sich bei der „Fremdsprache“, auch wenn es ein ‚Kurosawa-Film‘ war, natürlich um Russisch handelte.

(Dersu Uzala, Russland und Japan 1975; Regie: Akira Kurosawa.)

Wittgenstein

„A dog cannot lie. Neither can he be sincere. A dog may be expecting his master to come, but: why can‘t he be expecting him to come next Wednesday?“

Ludwig Wittgenstein hatte ein abwechslungsreiches Leben: 1889 geboren als Sohn einer reichen und angesehenen Industriellen-Familie in Wien, studierte er Ingenieurwissenschaften in Berlin und Manchester, war Inhaber eines Patentes zur Verbesserung von Flugzeugpropellern, verschenkte sein gesamtes umfangreiches, ererbtes Vermögen an seine Geschwister, meldete sich freiwillig um im 1. Weltkrieg zu kämpfen, geriet in Kriegsgefangenschaft, arbeitete als Volksschullehrer, später als Klostergärtner – Mönch zu werden ließ er sich gerade noch von einem Abt wieder ausreden – zog sich in der Einsamkeit Norwegens in ein Holzhaus zurück, entwarf für eine seiner Schwestern ein repräsentatives Haus in Wien, studierte, arbeitete und lehrte zwischendurch immer mal wieder in Cambridge, wo er schon zu Lebzeiten als Genie gehandelt wurde und gilt heute als einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts – obwohl, oder vielleicht auch gerade weil er die Philosophie auch schon mal als Geisteskrankheit bezeichnete, die erst durch das Philosophieren hervorgebracht würde.

Er selbst war letztendlich wohl durchaus zufrieden mit seiner Biographie: kurz vor seinem Tod ließ er seinen Freunden ausrichten, er habe ein wundervolles Leben gehabt.

Auch Derek Jarman war ein vielseitig interessierter Mann: Maler, Bühnenbildner, Regisseur von Filmen und Musikvideos, Autor und Gärtner, und auch, wenn er 1993, als er seinen Film Wittgenstein drehte, bereits schwer an AIDS erkrankt war, änderte dies nichts daran, dass er mit der Unterstützung seiner Schauspiel-Compagnie, bestehend u.a. aus Karl Johnson, Michael Gough und Tilda Swinton sowie Terry Eagleton als Drehbuchautor, einen lebensfrohen, klugen und witzigen Film drehte. Wobei er allerdings die einzelnen Episoden aus dem Leben Wittgensteins weniger mit filmischen Mitteln inszenierte, sondern eher als knallbuntes Theaterstück auf die Bühne brachte, was im Ergebnis so ziemlich das genaue Gegenteil von dem ist, wie man sich zur Zeit ein sogenanntes Biopic vorstellt.

Natürlich sieht man hier Jarmans sehr spezielle Sicht auf Wittgenstein, zudem in seinem sehr eigenen Stil gedreht und sollte man noch nie von Ludwig Wittgenstein gehört oder gelesen haben, könnte das Ganze auch ein wenig verwirrend ausfallen, aber das wäre dann nicht Jarman anzulasten, sondern, um es mit Ludwig Wittgenstein in Jarmans Film zu sagen: „We imagine the meaning of what we say as something queer, mysterious, hidden from the view, but nothing is hidden! Everything is open to the view! It is just the philosophers, who muddy the waters.“

(Wittgenstein, Großbritannien 1993; Regie: Derek Jarman.)